Litt E.T.A. Hoffmann an Amyotropher Lateralsklerose?

Über E.T.A Hoffmanns letzte Krankheit sind wir relativ gut unterrichtet. Eine Literaturwissenschaftlerin stellt aus leidvollem eigenen Erleben die Frage, ob es sich dabei um ALS (Amyotrophe Lateralsklerose, engl. Motor Neurone Disease) gehandelt hat, eine degenerative Erkrankung des motorischen Nervensystems. Damals freilich kannte man sie noch nicht – 2014 gab es eine Spendenkampagne unter dem Hashtag icebucketchallenge):

Die Lähmung hat bei Hoffmann zu seinem Geburtstag im Januar 1822 in den Füßen begonnen (er konnte ja seinen Gästen nicht mehr einschenken), sich dann auf die anderen Extremitäten ausgebreitet (weil er nicht mehr schreiben konnte, musste er sein Verteidigungsschreiben in der Meister Floh-Affaire diktieren) und hat schließlich die Sprache und die Atemwege befallen. Das ist typisch für die Progression von ALS. Man kann bei ALS sozusagen Glied um Glied verfolgen, wie die Lähmung voranschreitet. Bei manchen Versionen von ALS beginnt die Lähmung im Mundbereich – dann verläuft sie ganz besonders schnell tödlich. Aber auch die Versionen von ALS, die mit den Extremitäten einsetzen, dehnen sich schließlich auf den ganzen Körper aus. Wahrscheinlich hatte die Krankheit bei Hoffmann auch schon ein Jahr oder mehr vor seinem Geburtstag eingesetzt – sie fängt so schleichend an, dass man es kaum merkt. Typisch ist auch, dass die geistigen Fähigkeiten bis zum Schluss erhalten bleiben, einschließlich solcher persönlicher Eigenschaften wie Humor. Ohne moderne Mittel wie Beatmungsgeräte und künstliche Ernährung führt ALS ganz schnell zum Tode. Eine Ursache von ALS ist bis heute noch nicht gefunden worden. Nur bei einer ganz kleinen Zahl von Personen lassen sich genetische Ursachen nachweisen.

Vor vielen Jahren hatten Steven Scher und ich beide auf einer Tagung in Dublin bereits gesagt, dass Hoffmann ALS hatte, aber keiner von uns hatte es irgendwie öffentlich gemacht. Es ist nun interessant, dass neuestens der Internist Anton Neumayr (E.T.A. Hoffmann, Georg Trakl, Anton P. Tschechov im Spiegel der Medizin. Wien: Ibera-Verl. 2014) zu der gleichen Diagnose kommt. Nur an einer Stelle stimme ich nicht mit ihm überein: er sagt, dass die Augen von ALS nicht betroffen sind. Bei meinem Mann war das leider jedoch der Fall. Sein rechtes Auge konnte er in den letzten Jahren nicht mehr ganz schliessen, und mit beiden Augen hat er immer weniger blinken können. Deshalb wurde er im rechten Auge blind, und beide Augen waren sehr entzündungsanfällig.

Mein Mann Christopher Lyons (1949-2014) wurde im September 1996 mit ALS diagnostiziert. Es fing bei ihm in den Armen an, dehnte sich dann auf die Beine aus. Ab 1999 war er völlig auf den Rollstuhl angewiesen. Im Dezember 1999 bekam er einen Luftröhrenschnitt und wurde an ein Beatmungsgerät angeschlossen. Von da an war er nicht mehr fähig, seinen Beruf auszuüben. Er hat dann im Sommer 2000 gelernt, mit einem besonderen Tubus, der Luft durchließ, klarzukommen, was es ihm erlaubte, zu essen und zu sprechen. Die Verbesserungen in seinem Wohlbefinden und die Freude darüber, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein, setzten einen Energiesprung frei: Er hat (im Krankenhaus und im Heim) einen wissenschaftlichen Aufsatz geschrieben, einen Aufsatz für das Pflegepersonal über die Erfahrungen eines ALS-Patienten, und er hat mehrere Sprachen gelernt. Ab 2002 setzten Lähmungserscheinungen im Rachenbereich ein, die bald künstliche Ernährung notwendig machten und seine Sprache beeinträchtigten. Nach schleichendem Sprachverlust konnte er von 2006 an gar nicht mehr sprechen.

Nach dem sehr schnellen Verlust, seine Arme zu gebrauchen, hat er ursprünglich weitergearbeitet mit Hilfe eines „Voice recognition soft ware program“ namens Dragon dictate. Er hat dann, als der Computer seine schwächer werdende Stimme nicht mehr erkennen konnte, ein anderes Software Programm bekommen: Eazykeys. Zuerst hat er mit einem Daumendruck auf einen Schalter Signale an den Computer geschickt; als auch das nicht mehr ging, hat er mit einer speziell angefertigten Vorrichtung (die von einem technisch begabten Betreuer entscheidend verbessert wurde) ein Signal mit der Unterlippe an den Computer geschickt. Das ist natürlich eine sehr langwierige Geschichte, weil manchmal 6 oder 10 Lippenbewegungen nötig waren, um einen Buchstaben richtig hinzukriegen. Bis Dezember 2013 hat er jedoch fast täglich ein paar Stunden am Computer gearbeitet: Mitteilungen, Briefe und vor allem an einem Bericht über seine Erfahrungen mit der Krankheit und mit Ärzten und Krankenschwestern.

Ricarda Schmidt