E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe

Tölle, Rainer: Der in die tiefste Tiefe schaute. E.T.A. Hoffmann als Psychopathologe. Würzburg: Königshausen & Neumann 2012. 199 S. ISBN 978-3-8260-4749-7

Besprechung von Bernhard Schemmel

Baudelaire urteilte über E.T.A. Hoffmann: Man könnte glauben, dass man es mit einem Physiologen oder einem ganz profunden Irrenarzt zu tun habe, der sich damit amüsiert, diese tiefgründige Wissenschaft mit dichterischen Formen zu bekleiden, wie ein Gelehrter, der in lehrreichen Fabeln und Gleichnissen reden mag („c’est à croire qu’on a affaire à un physiologiste ou à un médecin de fous des plus profonds, et qui s’amuserait à revêtir cette profonde science de formes poétiques, comme un savant qui parlerait par apologues et paraboles“: Charles Baudelaire, Oeuvres complètes II, Paris 1976, p. 542). Dieses hellsichtige und in der Forschung anerkannte Urteil wird durch die Untersuchungen von Rainer Tölle, Prof. em. für Psychiatrie an der Universität Münster (4.6.1932-19.10.2014), im Einzelnen untermauert.

Tölle hat sich das Werk Hoffmanns vorgenommen (die Person bleibt ausgeklammert) und fördert nun (nach Studien von fast zwei Jahrzehnten und mehreren Veröffentlichungen) Erstaunliches zu Tage. Nicht nur dass Themen wie Wahn und Wahnsinn, Doppelgänger und Idealbild das ganze Werk durchziehen und sehr oft psychische Störungen und psychodynamische Zusammenhänge behandelt werden. Hoffmann ist vielfach auch der Erste in der Darstellung überhaupt, so bei der Konversionsreaktion, der dissoziativen Persönlichkeitsstörung (Doppelleben) und der Nebenrealität.

Tölle behandelt die Texte, soweit nötig im Zusammenhang und unter Berücksichtigung der Forschungslage, als Fallberichte und erstellt dann die Anamnese. Das ist am Beispiel der „Königsbraut“ angedeutet worden in ALG Umschau 47 (2012) S. 18f. Bemerkenswert ist außerdem die Modernität von Hoffmanns medizinischen Therapie-Anschauungen etwa darin, eine Psychose wie selbstverständlich hinzunehmen (Tölle, S. 108). Diese Aussagen sind also in Zukunft in die Betrachtungen einzubeziehen. Dass hier „nur“ eine medizinische Erkenntnis vorliegt, weiß Tölle (etwas pauschalierend angedeutet im Nachwort, S. 179-181). Literaturwissenschaftler werden andere, weitere Kreise ziehen, Literaturliebhaber von der Erzählkunst Hoffmanns mit dem Ineinander von Realität und Fantasie weiterhin fasziniert sein. Über die Quellen Hoffmanns weiß man, trotz mancher Hinweise, doch nicht allzu viel (S. 165-178), und so mag die Vorstellung vom Dichter als Seher Hilfestellung zu leisten.

Tölle benutzt die DKV-Ausgabe, ihm stehen mithin auch Briefe, Tagebücher und juristische Schriften zur Verfügung. Er zitiert Band, Seite und Zeile im fortlaufenden Text, arbeitet überhaupt mit großer Sorgfalt, ist mit ergänzender Literatur auf dem neuesten Stand der wissenschaftlichen Erkenntnis (nur das de Gruyter Lexikon „E.T.A. Hoffmann. Leben – Werk – Wirkung“ von 2009, 2. Aufl. 2010 ist auch mit den systematischen Aspekten offenbar für die Ausarbeitung zu spät erschienen). Den Helfern dankt Tölle ausdrücklich. Seinem Diktat und dem Abdruck der Datei sind einige formale Kleinigkeiten zuzuschreiben (die einer Schlussredaktion entgangen sind, aber nicht überbewertet werden sollen), so
fehlende Spatien, „Spalenci“ (S. 18), Weinhaus ohne Schlusszeichen (S. 96, Z. 14) oder „Daucos“ (S. 101); die gute Fee aus dem „Klein Zaches“ verdankt ihm den Vornamen Rosa und den Familiennamen Belverde. Verweise s. o., s. u. sind dem Leser nicht recht hilfreich, wenn sie wenig vorher oder nachher stehen, bei weiter entfernten ist die Seitenangabe nur selten übersehen worden (S. 68, 134). Die Untersuchung wird vorbildlich erschlossen durch ein Register der Werke Hoffmanns (bei dem allerdings nur die erste Nennung ausgeworfen ist), ein Literaturverzeichnis (bei dem auch ältere Titel aufgeführt sind, so: Disputatio physica de infantibus suppositities, praes.: Gothofredus Voigt, resp. Abraham Himlerus, Wittebergae 1667) und durch ein Sachregister.

Tölle gibt S. 44 an, die Tagebuch-Notiz „Ich denke mir mein Ich durch ein VervielfältigungsGlas – alle Gestalten, die sich um mich herum bewegen, sind Ichs und ich ärgere mich über ihr tun und lassen ppp“ sei bislang unbeachtet geblieben. Es ist aber auf die Beschäftigung des bekannten E.T.A. Hoffmann-Forschers Wulf Segebrecht hinzuweisen (z. B. im Vorwort zu seiner Anthologie „E.T.A. Hoffmann im Vervielfältigungsglas. Bilder und Gedichte“ von 1993, in der auch die Rezeption unter diesem Aspekt gesehen wird: „Sie bringt immer neue Bilder und Spiegelbilder des Künstlers hervor und vervielfältigt ihn nicht selten auf geradezu sinnverwirrende Weise“, S. 10). Dieser Gedanke ist mitsamt dem Zitat der Neugestaltung des E.T.A. Hoffmann-Hauses in Bamberg bei dem „Spiegelkabinett“ zugrunde gelegt worden und auch als Motto in der begleitenden Publikation von Reinhard Heinritz „E.T.A. Hoffmanns Spiegelungen“ von 1999 verwendet. Erstaunlich bleibt im Übrigen, dass Tölle das Zitat nicht in seine Betrachtungen zum Doppelgängertum einbezieht.