Ein wiederentdecktes Hoffmann-Porträt von der Hand Johann Friedrich Wilhelm Müllers (1782-1816)

von Jürgen Glauner

Carl Georg von Maassen hat 1909 im dritten Band seiner historisch-kritischen Ausgabe der Werke Hoffmanns eine Blei- und Buntstiftzeichnung Johann Friedrich Wilhelm Müllers (1782-1816) als Frontispiz publiziert, die den Dichter vorstellen soll, und in einer ausführlichen Anmerkung das damals noch Gewusste und Eruierbare zu Provenienz und Eigentümlichkeit dieser Zeichnung notiert. Die wichtige Anmerkung zu dieser hier erneut reproduzierten Abbildung sei, da schwer erreichbar, im Anhang noch einmal vollständig wiedergegeben, mit Korrekturen und Ergänzungen in eckigen Klammern. Trotz aller Plausibilität hat dieses mutmaßliche Hoffmann-Porträt bei den Freunden und Verehrern des Dichters keinen Anklang gefunden; weder in der Forschungsliteratur noch in der künstlerischen Rezeption ist es jemals auch nur zur Kenntnis genommen worden, aus welchen Gründen auch immer (begreiflich: wer den Hensel’schen Typus oder gar das Berliner Porträt liebgewonnen hat, wird die Müller’sche Zeichnung als befremdlich, wenn nicht abstoßend empfinden).

Eine genaue anatomische Untersuchung in Verbindung mit einer kuriosen, bislang nicht ernst genommenen Textstelle kann freilich mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zeigen, dass es sich bei dem Dargestellten auf Müllers Zeichnung tatsächlich um Hoffmann handelt, und zwar um das genaueste und detailreichste Bildnis, kurz: um das beste, was wir kennen, von der Hand eines der Größten seiner Zunft und seines Jahrhunderts.

Zweieinhalb Jahre nach Hoffmanns Tod hat der Berliner Verleger Stephan Schütze eine Beschreibung Hoffmanns verfasst, mit der noch niemand so recht etwas anfangen konnte:
„Im Dezember 1820 machte ich in Berlin seine [Hoffmanns] persönliche Bekanntschaft. Ich fand ihn im Aeußern nicht so abschreckend, als manche ihn mir geschildert hatten. Seine kleine, bewegliche Figur mit dem hastigen, kurzen Sprechen, mit den immer lebhafter werdenden Augen und besonders mit den kleinen Vertiefungen über den Augenlidern stellte ihn mir, nachdem ich alle prosaischen Vergleichungen entfernt hatte, als ein Zaubermännchen, oder stark ausgedrückt, als etwas Hexenmäßiges dar.“ (Schütze in: Schnapp S. 559).

Zweifellos hatte Hoffmann also ausgeprägte, auffallende anatomische Besonderheiten, von Schütze als „kleine Vertiefungen über den Augenlidern“ wahrgenommen. Der detailversessene Friedrich Müller hat eben diese mit präzisen scharfen dunklen Strichen realistisch wiedergegeben und dazu noch mit rotem Stift verstärkt, als wären diese Lider wie (chronisch) entzündet. Neben den „Vertiefungen“ fällt eine Art „Blase“ im rechten Augenwinkel auf, die Müller mit einem kreisförmigen runden Kringel umschrieben und mit blauem Stift plastisch herausgearbeitet hat.

In der Porträtkunst werden solche unschönen Details wie Warzen, Falten, Narben, Hautflecken, Tränensäcke usw. höflichkeitshalber gerne weggelassen; Müller hielt sie realistisch genau fest und zeichnete penibel, was ein medizinisches Gutachten wie folgt erläutert:
„1. Die „Blase.“ Es handelt sich um die Vorwölbung des Fettgewebes aus der Augenhöhle, im Volksmund „Tränensack“, fachsprachlich „Fettprolaps“, international „Fat Pads“ genannt. Fettprolapse sind in den vorliegenden Porträts im rechten nasalen Oberlid und in den Unterlidern in der gesamten Breite festzustellen, und zwar lokalisiert im „Septum orbitale“ (einer Membran, die Lid und Augenhöhle trennt).
2. Die abnorme Faltenbildung, „Vertiefungen“ der Oberlider, sind eine „Dermatochalasis“ (Hautüberschuss) der Oberlider, im Volksmund „Schlupflider“.
(1) und (2) sind degenerative Prozesse, die familiär gehäuft auftreten (gibt es Bildnisse der Eltern?) und sich mit zunehmendem Alter (für die anzunehmenden 37 Jahre schon relativ stark ausgeprägt) und/oder anderen Einflüssen (wie Alkoholismus) verstärken.
Schütze sprach lediglich von „kleinen Vertiefungen“, nicht von „Schlupflidern“, wollte die „prosaischen Vergleichungen“ meiden, die Tränensäcke und andere unschönen Details gar nicht erwähnen, und fiel in die Sprache des Märchens, um den berühmten Autor des „Goldnen Topfes“ und Komponisten der „Undine“ angemessen respektvoll zu charakterisieren (das Grimmsche Wörterbuch kennt übrigens das Wort „Schlupflid“ nicht, auch nicht der Mackensen oder Duden).

Auf Müllers Zeichnung sind nun neben der Dermatochalasis und dem Fettprolaps weitere eigentümliche Merkmale deutlich erkennbar und von großer Relevanz, weil sie sich auf andern Hoffmann-Bildnissen wiederfinden und/oder auch durch zeitgenössische Beschreibungen verbürgt sind.

Das sind insbesondere die hellen, graublauen, wach und distanziert beobachtenden Augen, die gebogene Nase mit dem charakteristischen Knick im oberen Drittel, die in die Stirn hängenden und sie verdeckenden Haare (das Graphitgrau der Haare ist natürlich dunkel, schwarz zu denken), die Frisur insgesamt einschließlich des Backenbarts; das sehr eigentümliche, oben und unten spitz zulaufende Ohr mit ausgeprägtem tropfenförmigem Läppchen und einem in der Mitte quer verlaufendem Knorpelbalken (Anthelix); der schmallippige Mund mit den schrägen Fältchen in den Winkeln; unterhalb der Unterlippe einige, wenigstens drei dunkle Hautflecken oder Warzen; die Nasolabialfalte, die eben nicht direkt zu den Mundwinkeln verläuft, sondern etwas entfernt an diesen vorbei, eine zu ihr parallele Falte ist auf der linken Wange deutlich zu sehen; das lange, markante Kinn ist ein vielfach belegtes Hoffmann’sches Attribut. Besonders zu vermerken ist noch ein senkrechter dunkler Strich unter einer dunklen Stelle im linken Augapfel, im Unterlid nahe dem linken Augenwinkel, der bis zur Wange herabreicht, der aussieht als bezeichnete er eine Verletzung oder Narbe.

Die aufschlussreichen, jetzt auf den medizinischen Begriff gebrachten Merkmale, eben die „Schlupflider“ und „Tränensäcke“, finden sich nun in authentischen andern Bildnissen und Selbstbildnissen Hoffmanns wieder (was einem Beweis gleichkommt), am frappantesten in L. Buchhorns Stich „nach der eigenen Zeichnung Hoffmanns“, wenn sie nicht, wie meistens, wegretuschiert oder sonst wie überarbeitet oder verfälscht wurden. Offenbar konnte man sich diese Striche und Spitzen über den Lidern nicht erklären, man hat sie wohl für Fehler in der Platte oder gar für „Ausrutscher“ des Stechers gehalten und fast immer entfernt. Aber auf dem Abdruck nach der Originalplatte des Berlin-Museums sind sie deutlich zu sehen, und nicht weniger deutlich zu sehen ist der oben erwähnte dunkle Strich unter einer dunklen Stelle links im linken Augapfel (siehe Ausstellungskatalog Berlin-Museum).

Der handwerklich nicht gerade meisterliche, vielfach überarbeitete und zerquälte Stich von Friedrich Karl Rupprecht, ebenfalls nach der Zeichnung Hoffmanns („ipse delin.“), hat indessen große allgemeine Ähnlichkeit mit der Müllerschen Zeichnung. Alle wichtigen Merkmale sind vorhanden und übereinstimmend, die „Schlupflider“ und „Tränensäcke“ unter den Augen sind deutlich zu erkennen (der Tränensack im rechten Augenwinkel allerdings liegt im Schatten). Es sind indes die gleichen Haare, im Umriss die Frisur wie bei Müller, nur einmal „neu aptiert“, nämlich zurückgebürstet und die Stirn freigebend.

Auch auf der Frankfurter Miniatur sind die „Vertiefungen“ schon gut zu erkennen; besonders erwähnenswert ist das Ohr mit dem waagrechten Knorpel (Anthelix) in der Mitte – eine weitere Bestätigung, dass es sich auch hier um ein Porträt Hoffmanns handelt.

Hoffmann, der schon im August 1798 „mit tiefer Ehrfurcht vor der Madonna von Raphael“ stand, war nach den Tagebüchern wenigstens vier Mal in der Dresdner Galerie [Er notiert im September und Oktober 1813: 6.9. NM die Gallerie gesehen 13.9. NM in der Bildergallerie sich sehr erbaut 16.9. NM in der Gallerie 7.10. NM in der BilderGallerie], laut einem Brief an C. F. Kunz aber „jeden Tag.“ [Brief an Kunz vom 8. Sept. 1813]. Der Dichter hat es sich also nicht entgehen lassen, die Bekanntschaft des großen Friedrich Müller zu machen, der mit seinem Haupt- und Lebenswerk, der Reproduktion der Sixtinischen Madonna, in Anspruch genommen war, und sich von diesem auch porträtieren zu lassen. Gewiß war ein Stich nach der Buntstiftzeichnung geplant, der vermutlich nicht mehr zustande kam. Die Zeichnung ist glücklicherweise im Nachlass erhalten geblieben.

Anhang
E.T.A. Hoffmanns Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe mit Einleitungen, Anmerkungen und Lesarten von Carl Georg von Maassen. Dritter Band. Nachtstücke. Mit neun Bildbeigaben und einem Faksimile. München und Leipzig bei Georg Müller 1909. D. Die Beigaben. S. 443f.:
Vor dem Titel befindet sich ein mutmassliches Portrait Hoffmanns, das im November 1905 bei Börner in Leipzig versteigert wurde. Es ist jetzt im Besitze des Herrn Albert Graeber, der mir dasselbe in zuvorkommendster Weise für eine Reproduktion in dieser Ausgabe zur Verfügung stellte. Im 81. Auktionskatalog von C. G. Boerner ist es unter Nr. 696 angeführt als Bleistiftzeichnung [richtig: Buntstift] von Friedrich Müller. Da ich anfangs ein wenig zweifelte, ob dies Bild wirklich E. T. A. Hoffmann vorstellen könnte, schrieb ich Ende Juni 1907 an Herrn C. G. Boerner und bat um nähere Auskunft, die am 2. Juli einlief: „Das Portrait des Dichters E. T. A. Hoffmann aus Herrn Graebers Sammlung stammt ursprünglich aus der Sammlung eines Herrn Faber aus Stuttgart, der Handzeichnungen des 18. und 19. Jahrhunderts, besonders Württembergischer Künstler sammelte. Unter mehreren Original-Zeichnungen des berühmten Kupferstechers Christian Friedrich Müller (1783-1816) [richtig: Johann Friedrich Wilhelm Müller, geboren 1782], dessen berühmtester Stich „Der heilige Johannes“ von 1808 sehr bekannt ist, befand sich das betreffende Portrait. Seine Originalität als Friedrich Müller’sche Zeichnung erscheint mir durch die Autorität des verstorbenen Herrn Faber gesichert. Ueber die Authenticität als Bild des Dichters E. T. A. Hoffmann kann ich nichts näheres angeben als dass das Blatt, als ich es in die Hände bekam, als solches bezeichnet war. Ich hatte keinen Grund an dieser Angabe zu zweifeln, da es mir den bekannten Zügen des Dichters nicht zu widersprechen schien.“

Christian [richtig: Johann] Friedrich Müller, geboren 1783 [richtig: 1782] zu Stuttgart, starb nach Vollendung seines vielbewunderten Kupferstichs der Sixtinischen Madonna Rafaels, der sein einziger Gedanke, sein einziges Ziel gewesen, an einer Gemütserkrankung auf dem Sonnenstein bei Pirna. Hoffmann kann den Maler Ende des Jahres 1813 in Dresden kennen gelernt haben und von ihm dort gezeichnet sein, denn wir wissen, dass Müller im Jahr 1814 als Professor der Kupferstecherkunst an der Dresdner Kunstakademie angestellt war.

Es lag im Bestreben der damaligen Portraitisten, die Züge der von ihnen gemalten Personen zu idealisieren, was so weit ging, dass sie bisweilen das Charakteristische dem Gefälligen aufopferten. Ein Beispiel dafür haben wir in Hensels Hoffmannportrait, das wir im zweiten Bande unserer Ausgabe wiedergaben, in dem alle harten und kantigen Linien in weiche Rundungen aufgelöst sind. Stutzig macht an Müllers Portrait nur die Behandlung des Haares, was wir aber auch auf Rechnung des eben Gesagten setzen können. Nach Hitzigs Mitteilungen waren Hoffmanns Augen grau, womit aber auch blaugraue Augen bezeichnet werden.

In meinen Zweifeln habe ich das Bild einer Reihe von Kennern Hoffmannscher Portraits wie einigen Malern vorgelegt, von denen nicht einer die Wahrscheinlichkeit eines Hoffmannbildnisses von der Hand wies. Ein besonderes Gewicht wurde von einem Maler auf das Ohr gelegt, das, bei vorliegendem Portrait besonders charakteristisch, für die Wahrscheinlichkeit eines Hoffmannbildes spricht (man vergleiche dazu besonders Hoffmanns Selbstbildnis in Bd. I vor Seite XI) [es handelt sich um Hoffmanns Zeichnung, die ihn selbst beim Porträtieren von Kunz und Pfeufer zeigt].

Literatur:

  • E.T.A. Hoffmann und seine Zeit. Ausstellungskatalog Berlin-Museum 1976 (Irmgard Wirth)
  • E.T.A. Hoffmann in Aufzeichnungen seiner Freunde und Bekannten. Eine Sammlung von Friedrich Schnapp. München 1974.