„Der Feind“ – ein Doppelwerk

Unterzeichneter hat sich ein Leben lang mit E.T.A. Hoffmann beschäftigt und auseinandergesetzt – manchmal nebenbei, manchmal hauptsächlich. Das begann schon, angeregt von einem ausgezeichneten Lehrer, auf der Schule, nämlich der Schulfarm Insel Scharfenberg Ende der fünfziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, und setzte sich dann fort mit der Promotion in Germanistik beim selben Lehrer, der inzwischen an der Freien Universität Berlin tätig war: Professor Dr. Alfred Behrmann. „Bilde dir ja nicht ein, daß ich dir etwas nachsehe, nur weil du mal mein Schüler auf Scharfenberg warst!“ (Das Internat im Norden Berlins.) So höre ich ihn heute noch mit erhobenem Zeigefinger sagen. Der Strenge des inzwischen (2022) verstorbenen Lehrers hatte ich es zu danken, daß nach etlichen Jahren denn doch ein Summa cum laude dabei herauskam: über Hoffmann.

Das wiederum wurde zum Anlaß, daß ich zuerst neben dem Schuldienst her, dann später, nach der Pensionierung, hauptsächlich meine zweite Laufbahn begann und fortsetzte: als Sprach- und Literaturwissenschaftler. In dieser Eigenschaft war und bin ich Kritiker und Gegner der Rechtschreibreform. Die ist zwar kein „bolschewistischer Unsinn“, wie Thomas Mann einst meinte, bezogen auf einen ersten Versuch von 1920, wohl aber ein kultureller. Und sie ist nicht nur ein Unsinn, sondern regelrecht eine Gefahr, nämlich für die deutsche Sprache. Genau das ist auch der Fall in bezug auf „Gender“, worüber ich mich in ebenfalls dezidiert geäußert habe, und zwar in meiner Autobiographie (Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2022). Das mag politisch nicht korrekt sein. Aber es gibt Wichtigeres als das „politisch Korrekte“, wie u.a. der Angriffskrieg gegen die Ukraine und die damit verbundene Heuchelei des neuen russischen Zaren und seiner Mischpoke zeigt – fast so gut wie dereinst Goebbels. Dieses ungleich Wichtigere ist die Wahrheit.

Die dritte Leistung, auf die ich hier hinweise, ist diejenige, worauf es jetzt ankommt. Ich meine die als Literaturwissenschaftler und Literarhistoriker. Manches davon bezieht sich auf Hoffmann und eben auch auf den „Feind“, um den es mir geht. Ich gebe im folgenden einen Überblick.

Der Kreis der Promotion schließt sich gewissermaßen mit einer Neuauflage der Dissertation von 1991: „Die Poetik der inneren und äußeren Welt. Zur Konstitution des Poetischen in den Werken und Selbstzeugnissen E.T.A. Hoffmanns“ (Wissenschaftlicher Verlag Berlin/wvb, 2020). Wie der Titel sagt, dringe ich hier nicht nur in die erlebte Außenwelt, sondern auch in die poetisierte Innenwelt Hoffmanns vor. Ich runde das Ganze ab mit einem Blick auf den romantischen Gesamtkünstler Hoffmann: als Dichter, Komponist und Zeichner. Außerdem enthält der Band eine gründliche Untersuchung von Hoffmanns schwierigster Erzählung: Prinzessin Brambilla.

Eine zweite Buch-Veröffentlichung in diesem Zusammenhang ist ebenfalls eine Neuauflage, d.h. eine erweiterte Vertiefung und Aktualisierung der ursprünglichen Fassung: „Magie des Poetischen Raums. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild“, im selben Verlag. Hier entwickle ich, wie erneut der Titel sagt, meine Theorie des Poetischen Raums und seiner Öffnung: zwei Begriffe und Inhalte, die ich originär in die Hoffmann-Forschung eingebracht habe.

Die dritte meiner zentralen Hoffmann-Veröffentlichungen ist „E.T.A. Hoffmanns Leben und Werk. Überblick und Einführung“. (Königshausen & Neumann, Würzburg 2010). In Teil A dieses umfangreichen Bandes gebe ich eine Zusammenfassung von „Hoffmanns Leben und Wirken“, in Teil B eine Charakterisierung von Hoffmanns Dichtung: „Wesen und wichtige Werke“. Das endete mit dem Versuch, Hoffmanns Dichtung in einer komprimierten graphischen Darstellung zusammenzufassen: eine Synopse des Werks, wie sie bisher in der Hoffmann-Forschung, soweit ich die überblicke, noch nicht versucht wurde.

Neben diesen Hauptwerken habe ich die folgenden Bücher über Hoffmann veröffentlicht (alle bei Königshausen & Neumann, 2003 ff.):

  • Das allerwunderbarste Märchen. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild (1)
  • Hoffmanns Poetischer Kosmos. E.T.A. Hoffmanns Dichtung und Weltbild (2)
  • Hoffmanns Erzählungen. Eine Einführung in das Werk E.T.A. Hoffmanns
  • E.T.A. Hoffmann. Die großen Erzählungen und Romane
  • E.T.A. Hoffmann. Erzählungen und Romane, 2

„Der Feind“ – ein Doppelwerk

Der vierte Fixpunkt meiner Hoffmann-Forschung ist nun aber Der Feind: Hoffmanns unvollendete letzte (genaugenommen die vorletzte) Erzählung. Mit diesem Werk habe ich mich am intensivsten auseinandergesetzt. Und weil das so war, kam zu dem wissenschaftlichen Interesse plötzlich und spontan das als Schriftsteller – der ich nebenbei immer war und bin, zuletzt in meiner Autobiographie „Bevor die Spuren verwehn“ (Wissenschaftlicher Verlag Berlin, 2022). Dies führte dazu, daß ich eine Fortsetzung des Hoffmannschen Originals in Angriff nahm, die ich dann fast in einem Zuge hinschrieb: innerhalb von zwei, drei Tagen. Dabei hatte ich gewissermaßen zwei Seelen in meiner Brust: die des Wissenschaftlers und die des Schriftstellers. Das Wunderbare – um einen Hoffmannschen Zentralbegriff zu verwenden – daran war, daß diese beiden „Seelen“ sich nicht widersprachen, geschweige denn bekämpften, sondern harmonisch zusammenarbeiteten. Das Endergebnis war dann ebenso, nämlich harmonisch – oder wissenschaftlich formuliert: evident. Entsprechende Anerkennung erhielt das Werk bei vier Lesungen innerhalb wie auch außerhalb der Hoffmann-Gesellschaft in den letzten zwanzig Jahren, bis hinüber in das polnische Stettin. Aufschlußreich und ‚spannend‘ war dabei, wenn ich das Publikum herausfinden ließ, wo Hoffmann endete und Deterding begann bzw. fortsetzte. Beim Publikum außerhalb der Hoffmann-Gesellschaft fand nur ein einziger die genau richtige Stelle – um mir hinterher unter vier Augen zu gestehen, daß er Hoffmanns Original gerade zwei Tage vorher gelesen hatte …

Anno 2017 veröffentlichte ich eine zweite, leicht überarbeitete, endgültige Fassung von Deterding/Hoffmann Der Feind, jetzt im Wissenschaftlichen Verlag Berlin. Entsprechend lautet jetzt der Untertitel: „Eine romantische Fortsetzung im ästhetischen Spiegel der Moderne“. Ich gebe in dieser Version einen detaillierten Einblick in die Entstehungsgeschichte meiner Fortsetzung. Ich charakterisiere den „schöpferischen Prozeß“ sowie den „ideellen Auslöser“ und nähere dabei den Ablauf des poetischen Prozesses beim Autor Deterding der Dichtungstheorie von Paul Valéry an: dem großen französischen Dichter, Essayisten und Kulturphilosophen, mit dessen Werk ich mich ebenfalls viele Jahre lang, z.T. neben Hoffmann her, beschäftigt und auseinandergesetzt habe – wovon andere Abschnitte in meinen Schriften, außerhalb der „Hoffmanniana“, zeugen.

Ein Wort noch dazu, warum Deterding sich beim Verfasser-Duo als ersten Autor genannt hat: weil diese zweite Fassung eine Basis aus der Literaturwissenschaft erhalten hat, die Deterdings ‚Eigengewächs‘ ist und die zunächst einmal von Hoffmann wegführt – dann aber doch wieder zu ihm hin.

Kurz und gut: Unterzeichneter meint in aller Zurückhaltung, daß die neue Erzählung „Der Feind“ als Doppelwerk Hoffmann/Deterding offiziell anerkannt werden sollte – zunächst innerhalb der Hoffmann-Gesellschaft, dann, von dieser ausgehend und ggf. initiiert, über sie hinaus in der literarischen Öffentlichkeit: in Jahrbüchern, Zeitschriften, Feuilletons sowie als Hinweis für die Universitätsbibliotheken im deutschsprachigen Raum, also Deutschlands, Österreichs und der Schweiz. – Das ist gewiß kein geringer Wunsch, vielleicht aber doch ein berechtigter.

Berlin, im Oktober 2022

Klaus Deterding